Der Lieblingsnachbar
Ein Gespräch über österreich-ungarische Vergangenheit, Gegenwart und touristische Attraktionen
Wir sitzen in einem prachtvollen Gasthof inmitten der Kiskunhalaser Puszta. Mehrere Gästezimmer, ein Schwimmbecken, Klubräume, Gartenlauben, Bänke, Obstbäume und auf dem Schornstein ein Storchnest. Die Jungen probieren gerade ihre Flügel, sie bereiten sich auf den Großen Flug vor. Der kleine Gasthof mit 22 Liegeplätzen hat einen hochrangig klingenden Namen: „Reichelhausen“. Er gehört einer österreichischen Firma, dementsprechend rekrutieren sich die Gäste vor allem aus diesem Land. Jetzt verbringt eine Gruppe Wiener Volkshochschulstudenten hier einige Tage. Sie sind gerade in Szeged bei einem Kulturausflug: das gehört auch zu ihrem Programm.
Ich sitze am Gartentisch mit Herrn Heinzpeter Thiel, der als Seminarleiter diese Gruppe betreut. „Ich bin dem Eigentümer, Herrn Errol Reicher, seit Jahren befreundet — beginnt Herr Thiel die Vorstellung. „Dieser Gasthof wurde vor 13 Jahren gebaut und wird durch ein nettes ungarisches Ehepaar verwaltet. Ich selbst leite in Wien eine Fortbildungsschule für Erwachsene, die ihre Kenntnisse vertiefen wollen. Wir halten Spezialkurse über Geschichte, Medizin, Wirtschaft, Literatur, Zeitgeschichte, etc. Primär geht es darum altes Wissen wieder aufzufrischen und durch neue Erkenntnisse zu ergänzen. Und in vielen Bereichen gibt es starke Beziehungen zum ungarischen Kulturkreis: etwa in Musik, Literatur, Kunst und Geschichte.“
- Worauf legen Sie den Hauptwert bei ungarischen Themen?
Sehr wichtig ist der historische Aspekt, dann Literatur, Musik und Sprache. 1000 Jahre Nachbarschaft ist eine wirklich lange und vielfältige Zeit!
- Wie sieht unsere gemeinsame Geschichte aus österreichischem Aspekt aus? Ich meine, innerhalb des Landes gibt es auch Meinungsunterschiede unter den Historikern. Z. B. die „patriotische Betrachtungsweise“ und die scharf kritischen Publikationen des in Wien lebenden Journalisten, Paul Lendvay, stimmen selten überein…
Eine tausendjährige Nachbarschaft ist durch 1000 Jahre geprägt und nicht durch die letzten zehn. Ich meine, das gilt für jedes Land und für jeden Kulturkreis. Wenn man sich mit der wechselseitigen Geschichte befasst, kommt man am Ende zu demselben Punkt, egal, ob aus österreichischer oder ungarischer Sicht. Wir, die beiden Völker, haben uns gegenseitig nichts vorzuwerfen: Ungerechtigkeiten, Unterdrückung, Passivität und Intoleranz sind auf jeder Seite in großer Anzahl zu finden. Wir lenken die Aufmerksamkeit unserer Hörer aber auf die gemeinsamen Punkte. Gerade jetzt eben wird die Stadtstruktur der Monarchie am Beispiel von Szeged studiert.
- Wie beurteilen Sie die ungarische Mentalität?
Die Ungarn sind ein relativ kleines Volk, das mit Feinden umgeben ist. Einmal kamen die Türken, dann gleich die Habsburger, dann die Russen, und natürlich waren die kleineren Nachbarvölker zu oft „Feinde“. Man musste manchmal einen „politischen“ Weg wählen, der oft schlecht war.
- Und die Österreicher? Was meinen sie über uns?
Die Österreicher fühlen Sympathie den Ungarn gegenüber. Mit vielen anderen Nachbarn hatten wir zahlreiche Probleme, die noch gar nicht so alt sind. Ungarn ist in diesem Kontext unser Lieblingsnachbar, und ich hoffe, das ist gegenseitig.
- Was die Kontakte unserer Völker in der Gegenwart bestimmt, ist der Tourismus, also die alltäglichen menschlichen Kontakte. So viel ich sehe, es kommen immer weniger österreichische Gruppen zu uns. Warum?
So scharf ist das nicht. Das ungarische Problem in der Touristik ist, dass es keine „Widerholungstäter“ gibt. Man fährt zweimal nach Budapest, dann ist das Ziel abgehakt. Ebenso zweimal Plattensee, dann abgehakt. Diese Destinationen leben nicht von einer permanenten Wiederholung. Aber es gibt Zigtausende, die jedes Jahr in die Kitzbühler Alpen und dreimal zu den Salzburger Festspielen fahren. In Ungarn gibt es diese Attraktionen auch im Hotelniveau nicht. Oder fragen wir nach den Städteerlebnissen: „Paris, ja, dann komme ich nächstes Mal wieder! Budapest? Ja, vielleicht einmal in einigen Jahren.“
- Fremdsprachkenntnisse?
Ja, wenn man nicht ungarischer Abstammung ist, lernt nicht ungarisch. Hier werden die Ausländer nicht verstanden und die ungarischen Gastgeber ebenso nicht. Deutsch verstehen etwa 150 Millionen, Englisch mehrere 100 Millionen. Ungarisch? 13-15 Millionen? In Ungarn macht die Situation schwer, dass es fast keine Nationalitäten mehr gibt. Ich meine: keine Familien, in denen das aufwachsende Kind die Fremdsprache und damit eine andere Kultur von Haus aus lernt. All diese sind also wichtige Faktoren, die man bei dem Charakter eines Volkes für maßgebend hält. Aber Sie haben auch keinen Grund zum Trauern: wir sind mit unseren Studenten da! Und ändern kann man an den Verhältnissen immer!
Lajos Káposzta
2014